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"Wir geben den Menschen ihren Selbstwert zurück"

In der Dornbirner Bildgasse befinden sich Produktion und Nähwerkstatt der INTEGRA Vorarlberg. Wir haben mit den ArbeitsanleiterInnen gesprochen.

Aysun, du bist schon 13 Jahre Arbeitsanleiterin in der Nähwerkstatt? Da hast du sicher schon viel erlebt?

Aysun Cam: Was wir immer wieder erleben ist, dass Menschen in Situationen zu uns kommen, in denen ihnen alles abverlangt wird. Neben ihrer Arbeitslosigkeit plagen sie finanzielle Engpässe oder gesundheitliche Beeinträchtigungen und ihr Selbstwert ist im Keller.

Wenn sie dann zu uns kommen, erhalten sie klare Strukturen und regelmäßige Erfolgserlebnisse langsam ihre Selbstsicherheit und ihren Selbstwert zurück. Das mitzuerleben ist immer wieder das Schönste an meinem Job. 

Was sind die großen Herausforderungen?

Aysun Cam: Unser Job fängt mit dem ersten Schritt an, den die Menschen in unser Büro setzen. Wir versuchen sofort, sie einzuschätzen und herauszufinden, wie wir am besten mit ihnen umgehen. Was braucht dieser Mensch und wie kann ich eine wertschätzende Beziehung zu ihm aufbauen?

Zudem müssen wir die persönlichen Besonderheiten mit den wirtschaftlichen Anforderungen in Einklang bringen. Wir haben einen klaren Kundenauftrag und müssen diesen hochqualitativ und fristgerecht abliefern. Das ist nicht immer einfach, aber stets machbar.

Können sich die Leute selbst aussuchen, dass sie zu dir in die Nähwerkstatt kommen?

Aysun Cam: Ja, wenn sie eine Qualifizierung dafür mitbringen. Sie müssen keine Profis sein, aber ein Minimum an Talent und vor allem die Bereitschaft zeigen, ihren Job bestmöglich zu erledigen. Den Feinschliff erhalten sie dann von uns.

Wie ist die Arbeit im Team?

Aysun Cam: Ich habe ein super Team und mir ist wichtig, dass die Leute selbständig arbeiten können. Ich gebe ihnen dabei möglichst viel Sicherheit. Selbst, wenn Fehler passieren, kläre ich das in Ruhe und gebe ihnen den gebührenden Respekt und die Wertschätzung, die sie verdienen. Das zeigt sich nach wenigen Wochen, wenn man vergleicht, wie sie bei mir am ersten Tag hereingekommen sind und wie sie sich nach wenigen Wochen geben. Wenn du siehst, wie selbstsicher und aufrecht sie wieder auftreten, dann liegen Welten dazwischen.

Vielen Dank Aysun und herzliche Gratulation zu dem großartigen Job, den ihr hier macht. Liebe Manuela, kommen wir nun zur Produktion. Mit welchen Herausforderungen habt ihr zu kämpfen?

Manuela Winterleithner: Auch unsere größte Herausforderung ist es, das Wirtschaftliche mit dem Sozialen in Einklang zu bringen. Als “sozialökonomischer Betrieb“ müssen wir unser Augenmerk sowohl auf die Menschen als auch auf den wirtschaftlichen Erfolg legen. Wir müssen also die richtige Person für die richtige Aufgabe finden.

Dabei erweitern wir gerne die gefühlten Grenzen unserer Mitarbeiter:innen. Denn viele trauen sich gewisse Arbeiten nicht zu und wollen schon von vornherein aufgeben. Dann ermutigen wir sie, es zu versuchen. Wenn sie es dann schaffen, sind sie meist positiv überrascht und ein kleines Stück weit gewachsen. Bei uns lernen sie, sich wieder mehr zuzutrauen.

Eine weitere Herausforderung ist das „Müssen“. Wenn sie das erste Mal zu uns kommen, weil sie vom AMS dazu eingeteilt wurden, ist oft eine gewisse Ablehnung zu spüren, weil sie das nicht selbst entscheiden konnten. Jene Menschen, die aber schon einmal bei uns waren, kommen immer wieder gerne zu uns und würden am liebsten bis zur Pension bleiben. Was aber nicht das Ziel ist. Unser Ziel für sie ist eine Anstellung am ersten Arbeitsmarkt.

Rein gruppendynamisch gibt es ebenfalls viele Dinge zu beachten. Wir haben zahlreiche Nationalitäten und Kulturen bei uns. Die eine will nicht neben einem Mann sitzen, der andere hat ein Problem mit Frauen oder einer gewissen Nationalität. Solche Querelen gibt es bei mir aber nicht. Hier müssen wir alle zusammenarbeiten und Mobbing wird nicht toleriert. Wir sind eine Produktionsabteilung und haben einen Job zu erfüllen – und zwar genau so, wie der Kunde es verlangt.

Mira, du bist seit drei Jahren bei INTEGRA. Wie siehst du das Ganze?

Mira Maksan: Auch für mich ist es gleich zu Beginn wichtig, die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu erkennen. Zudem haben wir als Arbeitsanleiter sehr viele Rollen, die wir einnehmen: Wir sind Chef und Führungsperson, aber gleichzeitig auch Seelsorger und Freund. Mein Anspruch ist dabei, einen „positiven Arbeitsplatz“ zu schaffen, an dem sich die Menschen wohlfühlen. 

Matthias, wie siehst du das?

Matthias Teichgräber: Das Schöne ist, dass sich die Leute gegenseitig unterstützen. Wenn sie zu uns kommen, denken sie oft, sie wären allein, aber das sind sie nicht. Die MitarbeiterInnen, die schon länger da sind, lernen die Neuen ein, geben ihre Erfahrung weiter und unterstützen sie bei ihren Aufgaben. 

Das hilft uns auch bei unserem Job, denn wir können bei 30 oder 40 Mitarbeitern nicht überall sein. Aber wir haben gute Leute, die gerne Verantwortung übernehmen und uns unterstützen.

Als sozialökonomischer Betrieb merken wir auch die erhöhten Anforderungen. War der Fokus früher klar auf den Menschen, liegen heute wirtschaftliche Aspekte mehr im Vordergrund. Heute besteht ein weit höherer Leistungsdruck. Trotzdem bleibt unser Hauptfokus auf den Menschen.

Wie sieht es mit Vermittlungen eurer Mitarbeiter:innen auf den ersten Arbeitsmarkt aus?

Manuela Winterleithner: Nach einer längeren Arbeitslosigkeit haben die Menschen oft mit Selbstzweifeln und Ängsten zu kämpfen, wenn sie einen neuen Job beginnen sollten. Da wäre es also sehr hilfreich, wenn sie in Betrieben eine Weile schnuppern könnten, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen und ihre Ängste abzubauen.

Mira Maksan: In Wolfurt hatten wir diese Möglichkeit. Da war eine Firma im selben Gebäude ansässig, die immer wieder Leute brauchte. Also nahmen sie öfter mal ein oder zwei Leute mit und gaben uns dann Feedback. Wenn diese passten, dann war gut, sonst brachten sie uns die Leute wieder und nahmen andere mit. So hat eine der Frauen eine fixe Anstellung bekommen.

Manuela Winterleithner: Natürlich gibt es Menschen, die wieder einen Job finden und sich ins normale Arbeitsleben integrieren. Aber viele unserer Klient:innen haben mit langfristigen Problemen wie physischen Krankheiten oder Depressionen zu kämpfen, die ihnen den Zugang zu einem neuen Job erschweren.

Was berührt euch bei eurem Job am meisten?

Manuela Winterleithner: Wir haben Menschen bei uns, die teilweise schon Jahre lang nicht mehr gearbeitet haben oder auch Personen, die als Migranten vielleicht noch nie bei uns arbeiteten und weder die Strukturen, noch die Anforderungen kennen, die wir hinsichtlich Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Krankmeldungen und vielen anderen Dingen an Mitarbeiter:innen stellen. Da ist es immer wieder schön, ihnen diese Grundbegriffe beizubringen. 

Aber das Schönste aus meiner Sicht ist, dass die Leute gerne zu uns kommen. Viele von ihnen haben weder einen Job noch soziale Kontakte und freuen sich daher über diese Möglichkeit, bei uns zu arbeiten. 

Bild vlnr: Matthias Teichgräber, Mira Maksan, Aysun Cam und Manuela Winterleithner - Download Foto